Judith Wyder (Photo: Phil Gale)
Judith Wyder (Photo: Phil Gale)

„Das übergeordnete Gefühl ist Dankbarkeit“

Am vergangenen Wochenende standen Rémi Bonnet, Roberto Delorenzi und Judith Wyder beim Final der Golden Trail Series im Rampenlicht. Mit der Bernerin Judith Wyder (35), der frühere OL-Weltmeisterin und Siegerin der Golden Trail Serie 2019, haben wir für die aktuelle Running-Story gesprochen. Sie hat sich nach diversen Rückschlägen wieder in der Weltelite etabliert.

Judith Wyder, herzliche Gratulation zum zweiten Platz am Finalrennen der Golden Trail Serie und deinem zweiten Schlussrang. Welche Gefühle lösen dieser Erfolg aus?
Etwas entgegengesetzte Gefühle. Zum einen bin ich sehr zufrieden. Ich gewann an der WM im Mai Silber und ich war in allen Rennen nie schlechter klassiert als auf Rang 3. Das ist hervorragend und wirklich cool…

Aber?
Ja, das Aber schwingt mit. Komplett abgerundet sähe ich die Saison mit dem Gesamtsieg, dem zweiten nach 2019.

Diesen verpasstest du sehr, sehr knapp…
Genau. Um es auf den Punkt zu bringen: Wegen einer nicht ganz konsequenten Regel.

Erkläre.
Die jetzige Siegerin Sophia Laukli (USA) und ich weisen dieselbe Punktzahl auf. Am Final war ich vor ihr klassiert. Das Reglement sagt aber: Bei Punktgleichheit siegt diejenige mit der grösseren Anzahl an Siegen während der Saison. Das war sie. Der Final spielte in diesem Kontext keine Rolle. Aus meiner Sicht wäre es korrekt gewesen, uns beide auf Platz 1 zu werten.

Du hast diese Serie 2019 für dich entschieden. Worin unterschieden sich für dich diese beiden Saisons?
(Lacht) Natürlich mit dem Schlussrang und den damit verbundenen Gefühlen. Schliesslich ist Trailrunning Trailrunning geblieben, auch wenn sich die Sportart in eine kompetitivere Richtung entwickelt hat. Trailrunning löst bei mir noch immer eine riesige Faszination aus. Aber entscheidend in dieser Zeitspanne sind zwei Ereignisse dazwischen: mein Hirnschlag und mein Beckenbruch.

Vor allem dein Hirnschlag.
Klar. Dieses Ereignis am Weihnachtstag 2019 hat mich definitiv geprägt. Die Einstellung hat sich verändert. Und ich bin inzwischen zweifache Mutter. (Judith Wyder war damals schwanger mit dem zweiten Kind).

Das Fazit jenes Zwischenfalls?
Ich hatte Glück, auch wenn ich seither nicht mehr gleich gut sehe mit dem rechten Auge wie mit dem linken. Aber – und das will ich hervorheben: Das übergeordnete Gefühl ist eindeutig die Dankbarkeit – die Dankbarkeit auch, dass ich wieder gegen die Weltbesten laufen kann und mich gegen die Jungen behaupte.

Begleitet dich seither auch eine Unsicherheit?
Ich will das nicht so formulieren. Aber klar, ein solcher Zwischenfall kann sich immer wieder ereignen.

Wie wirkst du dem entgegen?
Ich nehme Blutverdünner ein. Und ich unterzog mich 2020 einer Herz-Operation des Foramen Ovale. Ganz stark bewusst geworden bin ich mir: Judith, geniesse den Augenblick. Ich sehe mich sehr zufrieden und dankbar.

Bist du mit Einschränkungen konfrontiert seither?
Wenn ich das Einschränkungen nenne: Ich bin weniger belastbar. Und ich sehe schlechter. Aber ich will von diesem Thema wegkommen. Schliesslich gelingen mir exzellente Leistungen. Und grundsätzlich bin ich gesund. Vieles funktioniert hervorragend. Die Frage lautet daher eher: Wie gehe ich mit dem Hemmenden um.

Welche Gedanken sind zentral?
Wohl meine Sicht auf mein Sportlerleben. Ich verfolge es voller Kraft. Aber die Familie ist ganz klar wichtiger. Die Kombination und der Alltag sind sehr herausfordernd. Für mich habe ich klar definiert: Wenn die Belastbarkeit zu gross wird, dann gebe ich den Leistungssport auf.

Du hast zu Beginn des Gesprächs auch von einem Beckenbruch gesprochen. Wie kam es dazu?
Das war eine Schambeinastfraktur im August 2021. Diese war höchstwahrscheinlich eine Kombination und Folge des Hirnschlags, der Geburt unserer zweiten Tochter und eine Stressreaktion auf die Belastung des Wiederaufbaus sowie der Wettkampfbelastung.

Welche Schlüsse hat du daraus gezogen?
Ich renne weniger als vor zehn, fünfzehn Jahren. Zudem ist mein Wissen (als Physiotherapeutin und Leistungssportlerin) umso grösser. Ich weiss bei jedem Training Bescheid über das Was und das Warum. Und ich habe viel Neues gelernt bezüglich Ernährung und Erholung. Zudem tat mir die sehr lange Regenerationspause sehr gut.

Wie erlebtest du jenes Zurückkommen?
Natürlich hatte ich viele Zweifel, Ups and Downs. Aber allgemein war es nicht besonders schwierig. Ich bin es mir gewohnt, von weit unten zu beginnen, etwa nach den beiden Geburten. Aber es stimmt schon: Am Anfang gibt es frustrierende Momente. Und was ich auch sagen will: Mit den beiden Kleinkindern war ich trotzdem immer in Bewegung. Die Rückkehr zum Leistungssport war nie primäres Ziel gewesen, und der Leistungssport ist auch jetzt nicht der eigentliche Antrieb. Mich motivierte die Aussicht auf einen aktiven Lebensstil. Umso motivierender war es, immer besser in Fahrt zu kommen.

Wo stufst du deine Resultate von diesem Jahr ein im Vergleich mit all jenen deiner ganzen Karriere, den fünf WM-Goldmedaillen im OL sowie jenen vom 2019, als du die Trail-Serie gewinnen konntest?
Entscheidend für mich sind die Erlebnisse, die Herausforderungen, denen ich mich stelle. Die Konstellationen haben sich aber immer wieder verändert. Darum kann und will ich nicht vergleichen. Ähnlich oder identisch sind höchstens die Empfindungen: Ich bin dankbar für diese Erlebnisse. Und ich bin stolz, dass ich es immer und immer wieder schaffe am Wettkampftag präsent zu sein und alles zu geben. Ich übertreffe mich in meinen Rennen immer wieder. Das ist spannend.

Wie geht deine Karriere weiter?
Ich werde Anfang November den Kullamannen by UTMB laufen, um mich den OCC in Chamonix 2024 zu qualifizieren. Dabei handelt es sich um die andere wichtige Trail Serie. Ich will mir für nächstes Jahr beide Optionen offenlassen: OCC und Trail-Series. Ich freue mich auf eine spannende Zukunft. Wir Schweizer verfügen über tolle Trailläuferinnen und -läufer. Das motiviert zusätzlich.

 

Das Gespräch mit Judith Wyder führte Jörg Greb

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